Lauf-Blog für Läuferinnen und Läufer der F-Klasse

Ein Sightseeing-Lauf zuhause: Marienfelde goes Street Art

Veröffentlicht am 04.09.2020 | 2 Kommentare

Unser Stadtteil im Berliner Süden feiert in diesem Jahr 800-jähriges Jubiläum. 800 Jahre Marienfelde – das ist eigentlich ein Grund zum Feiern, aber wegen Corona (und einer kaum existenten Öffentlichkeitsarbeit*) hat das bisher kaum jemand mitbekommen. Umso schöner daher, dass das Marienfelder Künstlerduo Maria Vill und David Mannstein einen Beitrag zum Jubiläum umgesetzt hat, an dem man zumindest in den nächsten Wochen kaum vorbeigucken kann: „Paste up History – Marienfelde goes Street Art“. An neun Gebäuden in Berlin-Marienfelde sind große Motive angebracht, die auf Marienfelder Geschichte und Gegenwart Bezug nehmen…

Für mich lag es nahe, mit befreundeten Marienfelder Läuferinnen und Läufern einen Lauf entlang aller neun Paste-ups zu machen. Und als sich herausstellte, dass David Mannstein ebenfalls Läufer ist und uns gerne auf dem Lauf begleiten wollte, war das Sightseeing-Angebot perfekt!

Am Samstagmorgen um 7 Uhr trafen sich schließlich neun Läuferinnen und Läufer, um sich von einem der beiden Künstler persönlich das Projekt „Paste up History – Marienfelde goes Street Art“ erläutern zu lassen. Nachdem David ein wenig zur Entstehung der Aktion und der Kunstform „Paste-up“ erklärt hatte – in der Streetartkultur ein mit Kleister aufgezogenes Plakat – konnte es losgehen. Denn wir hatten nicht ewig Zeit: Die Kunst-Aktion ist temporär – und temporär, so erfuhren wir, heißt bei Berliner Behörden maximal 8 Wochen… also los!

Prolog – Gedenkstein Dr. Jacobsohn

Als ersten Anlaufpunkt hatte ich – noch vor den Paste-ups – den Gedenkstein für Dr. Moritz Jacobsohn an der Ecke Marienfelder Allee/Belßstraße eingeplant. Ein jüdischer Arzt, der zu seiner Zeit viel Gutes in Marienfelde bewirkt hat und dem auch eines der Paste-ups gewidmet ist. Aber dazu später…

Kirche St. Alfons

Das erste Paste-up war an der katholischen Kirche St. Alfons angebracht. 1928 ließ sich der Orden der Redemptoristen an dieser Stelle nieder und benannte Kirche und Kloster nach seinem Ordensgründer Alfonso Maria de Liguori. Dieser im 18. Jahrhundert lebende Italiener war hochbegabt und bereits mit 16 Jahren ein promovierter Jurist. Mit 27 beschloss er, sein Leben zu ändern, studierte Theologie und widmete sich als Priester den Ärmsten.

Das Foto an der Kirche St. Alfons zeigt einen Redemptoristen, wie er den Bibelspruch „Die Barmherzigkeit erhebt sich über das Gericht.“ an die Fassade schreibt. David verriet uns, dass sie für das Foto reisen mussten: Da die Redemptoristen Marienfelde 1991 verließen, wurde das
Foto im Redemptoristen-Kloster St. Klemens in Heiligenstadt (Thüringen) aufgenommen.

Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde

Das Paste-up am Gebäude der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde zeigt eine Familie, die als Flüchtlinge im Jahr 1953 aus der DDR hier ankamen. Es soll uns erinnern, dass auch wir Deutsche einmal Flüchtlinge waren.

Im 1953 gegründeten Notaufnahmelager Marienfelde kamen seit 1948 Flüchtlinge aus der DDR im Westen an. Es war ursprünglich für 2.000 Menschen gebaut worden, wurde aber stetig erweitert und konnte bereits Ende 1956 den millionsten Flüchtling begrüßen.

Nach dem Mauerbau kamen dann eher Spätaussiedler (z.B. aus Polen oder der Sowjetunion), bis die Einrichtung dann im Sommer 2010 geschlossen wurde. Seit Dezember 2010 dient die Anlage als Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber.

Postamt Kaiserallee

Nach nur wenigen Laufschritten erreichten wir das nächste Paste-up in der Kaiserallee. Es zeigt ein historisches Foto von 1906 mit Postbediensteten.

Direkt gegenüber stand nämlich vor langer Zeit das Kaiserliche Postamt, vor dem diese Herren damals posierten.

Links steht übrigens der Telegrammbote mit seinem Fahrrad, ganz rechts der Landpostbote, dazwischen die regulären Postboten, Postgehilfen und der Postverwalter.

Stadtteilbibliothek Marienfelde

Vom ehemaligen Postamt ging es nun zur aktuellen Bibliothek. Hier ist das Foto eines mit halb offenen Augen träumenden Mädchens am Gebäude zu sehen.

David erläuterte, dass es den Zustand der Ruhe symbolisiert, den wir brauchen, um Literatur, Musik und Kunst aufzunehmen.

Auf der anderen Seite der Bibliothek gab es ein weiteres Paste-up zu entdecken: eine Eule im Anflug! Dieses Symbol der Weisheit und Tiefgründigkeit gefiel den Verantwortlichen der Bibliothek so gut, dass es wohl noch etwas länger am Gebäude bleiben darf.

Ehemaliges Kloster vom Guten Hirten

Unsere nächste „Haltestelle“ war das ehemalige Kloster vom Guten Hirten, wo uns zwei junge Frauen an den Ziegelsteinwänden begrüßten. Das Kloster entstand zwischen 1903 und 1905 als „Rettungsanstalt für Gefallene Mädchen“. Im Kloster arbeiteten die Mädchen und Frauen in einer Haushaltsschule, einer Wasch- und Plättanstalt, der Landwirtschaft und einer Bäckerei. Bei den überdimensionalen Fotos handelt es sich allerdings um nachgestellte Motive, da das Bildmaterial aus der damaligen Zeit nicht den technischen Anforderungen an eine solche Vergrößerung genügte. Dank des Kostüm-Fundus’ Babelsberg sind die Bilder aber laut David sehr nah am Original.

Im Ersten Weltkrieg wurde das Kloster übrigens als Militärlazarett unter der Leitung des Marienfelder Arztes Moritz Jacobsohn (der vom Gedenkstein, s.o.) genutzt.

Das Kloster wurde 1967 geschlossen. Die Klostergebäude beherbergen seit 2006 unter anderem das katholische Gemeindezentrum Vom guten Hirten, eine Schule und Einrichtungen der Caritas.

Dr. Jacobsohn-Promenade

Über einen kleinen Durchgangspfad, den die wenigsten von uns kannten, erreichten wir dann die Dr. Jacobsohn-Promenade. Der zu seiner Zeit sehr beliebte Arzt wohnte und arbeitete bis 1938 in Marienfelde. Er behandelte arme Patientinnen und Patienten nicht nur kostenlos, er soll ihnen auch häufig mit dem Rezept auch gleich das Geld für die Medizin überreicht haben. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er 1938 zur Flucht gezwungen und emigrierte in die USA.

David merkte an, dass wir gerade vor dem höchsten der Paste-ups standen. Immerhin so hoch, dass ihre „normale“ Hebebühne nicht ausreichte und eine höhere Hebebühne angemietet werden musste. Da es außer einem für diesen Zweck nicht geeigneten Passbild keine Original-Fotos von Dr. Jacobsohn gibt, sprachen die beiden Künstler einen Marienfelder Apotheker an, der sich gerne bereit zeigte, für das Paste-up des zwischen seinem alten und neuen Leben wechselnden Arztes Modell zu stehen.

Nach diesen Ausführungen gab es wieder ein kleines Stück zu laufen – unser Sightseeing-Event hatte ganz klar das heimliche Motto „wenig Lauf, viel Kultur“.

Wohnhaus Marienfelder Allee

An der lautesten und verkehrsreichsten Kreuzung Marienfeldes blieben wir wieder stehen. Hier zeigte sich, warum ich den Lauf auf einen Samstagmorgen, 7 Uhr gelegt hatte. Denn in der Woche ist es hier so laut, dass man kaum Davids Kommentare zum Paste-up verstanden hätte. An diesem Verkehrsknotenpunkt kreuzt sich die B101 (über die täglich viele hundert LKW nach Berlin hineinfahren) mit dem Nahmitzer Damm/Hildburghauser Straße, und dazu kommt auch noch Flugverkehr. An einem Wohnhaus an der Kreuzung wollten die Künstler mit ihrem poetischen Paste-up augenzwinkernd anregen, klimafreundliche Alternativen zu lauten und schädlichen Fortbewegungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Die Arbeiten an diesem Paste-up waren laut David ziemlich anstrengend: Die Behörde hatte wegen des Gewichts eine Hebebühne auf dem Gehweg untersagt, so dass sie ein Gerüst direkt am Haus aufstellen mussten. Und das musste mehrmals auf- und abgebaut und verschoben werden. Das alles bei fast 40 Grad, im Lärm der Straße und einer 80er-Jahre-Party in der Kneipe gegenüber!

Alte Feuerwache

Das vorletzte Paste-up besichtigten wir am Schlauchturm der alten Feuerwache von 1950. Diese ist schon lange nicht mehr im Betrieb und wird inzwischen vom Sportverein TSV Marienfelde genutzt.

Als Symbol für die Zusammenarbeit im Sport zeigt das Motiv Menschen, die eine Räuberleiter bilden, um an einen Goldfisch zu kommen. Obwohl es eine der ersten Ideen des Künstlerduos war, fand David jetzt im Nachhinein, dass es auch die Zusammenarbeit aller Beteiligten an diesem Projekt symbolisieren könnte.

Für das Foto waren übrigens keine akrobatischen Fähigkeiten nötig: Die sportlichen Menschen wurden im Liegen aufgenommen. Da ein Motiv mit Sportlern des TSV Marienfelde terminlich nicht mehr geklappt hat, griffen die Künstler auf ein Foto aus ihrem Archiv zurück – kombiniert mit dem familieneigenen „zugelaufenen“ Goldfisch!

Auf dem Weg zum letzten Paste-up führte uns unser Laufweg an der Marienfelder Dorfkirche vorbei – dem Grund für das 800-Jahre-Jubiläum. Sie wurde nämlich im Jahr 1220 durch Templer errichtet (obwohl es auch Zweifel an diesem Datum gibt) und gilt als die älteste Dorfkirche Berlins.

Gutshof Marienfelde

Nachdem wir in den Gutspark Marienfelde gelaufen waren…

… erreichten wir schon bald das Paste-up des Ehepaars Adolf und Emilie Kiepert an einer Wand des Gutshofs Marienfelde. Der Ökonom und Politiker Adolf Kiepert erwarb das völlig heruntergewirtschaftete Rittergut Marienfelde 1844 und machte es bald zu einem rentablen landwirtschaftlichen Musterbetrieb.

Adolf Kiepert engagierte sich vorbildlich für das Gemeinwohl in Marienfelde und war ein hochgeachteter Mann, der als Gutsherr zugleich Kirchenpatron und somit für die Erhaltung von Kirche und Schule sowie die Besetzung der Pfarrer-, Küster- und Lehrerstellen zuständig war. Er verfügte über einen Sitz im Preußischen Landtag und saß darüber hinaus von 1872-1878 im Deutschen Reichstag.

Der Gutshof wurde 1925 an die Stadt Berlin verkauft und hatte nach dem 2. Weltkrieg viele Nutzungen u.a. als Standesamt und Kindergarten. 1977 verkaufte Berlin ihn an den Bund, der  ihn heute als wissenschaftliches Versuchsgut des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) nutzt.

Neugierig lief ich näher an die Wand heran, um mir die Paste-up-Technik von Nahem anzusehen. Tatsächlich: aufgeklebtes Papier… und mit Kennzeichnungen, damit beim Tapezieren alles an die richtige Stelle kommt ;-)

David erzählte uns, dass es zuerst Schwierigkeiten gegeben hatte, da die Wiese vor dem Gebäude besonders geschützt ist. Bis sich herausstellte, dass die Aussaat der besonderen Gräser bereits Jahre her war und dort schon lange nichts besonders Schützenswertes mehr dort wächst. So konnten sie dann mit der Hebebühne doch noch an das Gebäude heranfahren.

Zum Schluss wies er uns auch noch auf ein Detail hin, dass ich trotz Vorbereitung völlig übersehen hatte: Das Foto ist spiegelverkehrt an die Wand angebracht! In offiziellen Paar-Fotos steht die Frau üblicherweise rechts vom Mann. Die Künstler wollten aber gerne, dass die Kieperts in Richtung Park schauen und haben das Foto daher kurzerhand gespiegelt.

Nach reichlich zwei Stunden, nicht einmal 6 Lauf-Kilometern aber mit vielen Eindrücken und Informationen liefen wir zurück durch den Gutspark…

… und David stellte uns noch seine Frau Maria Vill – die andere Hälfte des Künstlerduos – vor. Abschließend gab es noch für jeden den offiziellen Flyer zum 800-jährigen Jubiläum von Marienfelde (die leider im Ortsteil kaum verteilt wurden).

Weitere Informationen:
» www.mannstein-vill.de (Website der Künstler)
» www.akhm.de (Website des Arbeitskreises Historisches Marienfelde)

PS: Herzlichen Dank an die beiden Künstler für dieses schöne Projekt in Marienfelde und vor allem an David für die Führung – mit vielen interessanten Details zur Geschichte Marienfeldes, zu den einzelnen Paste-ups und zu den vielen Hürden, die man überwinden muss, um ein solches Projekt umzusetzen. Darüber hinaus vielen Dank an Andreas V. für die ergänzenden Fotos. Und Dank auch an die Marienfelder Läuferinnen und Läufer – es war schön, euch alle mal wieder zu sehen!

Ergänzung 12.09.2020

Ich habe im Artikel von einer „kaum existenten Öffentlichkeitsarbeit“ geschrieben und wurde daraufhin darauf angesprochen, dass das nicht ganz korrekt sei. Der Bezirk habe alles versucht, anlässlich des Jubiläums und der Paste-up-Aktion die Presse nach Marienfelde zu holen. Leider war das Interesse der Zeitungen wohl sehr gering, sich auf den „weiten Weg“ in den Außenbezirk Marienfelde zu machen. Darüber hinaus hat der Bezirk die erwähnten Flyer drucken lassen, die aber wohl nur an einen kleinen Teil der Marienfelder Haushalte verteilt wurden. Und in einigen Einrichtungen Marienfeldes lag der Flyer aus.

Es hat also eine Öffentlichkeitsarbeit gegeben. Meine Vorstellung von Öffentlichkeitsarbeit ist aber die, dass die Öffentlichkeit etwas von dem Jubiläum erfährt. Und zwar nicht die abstrakte Öffentlichkeit „Berlin“ sondern jeder einzelne Marienfelder! Nahezu alle Marienfelder denen ich vom 800-Jahr-Jubiläum erzählte, reagierten überrascht, weil sie vorher noch nichts davon gehört hatten. Wenn eine Stadt oder ein Stadtteil etwas zu feiern hat (selbst wenn es coronabedingt leider kaum Veranstaltungen gibt), dann teile ich das stolz im öffentlichen Raum mit, z.B. mit Bannern und Plakaten. In Marienfelde deutet nichts auf dieses besondere Jubiläum des Stadtteils hin. Bis auf die tollen Paste-ups. Die muss sich ein Marienfelder allerdings von „Eingeweihten“ erklären lassen.

Ich bin froh und dankbar für alles, was der Bezirk trotz Corona zu diesem Jubiläum auf die Beine gestellt hat – besonders natürlich die Paste-up-Aktion und die Hinweistafeln auf historische Marienfelder Orte, die demnächst noch aufgestellt werden. Darin steckt viel Arbeit und Engagement aller Beteiligten. Aber eine Öffentlichkeitsarbeit die für die Marienfelder Öffentlichkeit nicht wahrnehmbar ist, würde ich nach wie vor als „kaum existent“ bezeichnen.

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F-Klasse-Laufen, Laufgeschichte

2 Kommentare zu “Ein Sightseeing-Lauf zuhause: Marienfelde goes Street Art”

  1. Adrian sagt:

    Vielen Dank an Andreas I für die Idee und den tollen Bericht und an die Künstler David und Maria für die schönen Paste-ups!! Mein persönlicher Favorit sind übrigens die beiden Nonnen. Wenn es nach mir ginge könnten einige der Bilder auch gerne dauerhaft an den Wänden bleiben, z.B. am Übersiedlerheim. Vielleicht wäre eine Kooperation mit einem Graffitikünstler möglich?!
    Ein Grund für die fehlende Öffentlichkeitsarbeit des Bezirks könnte vielleicht sein, dass Marienfelde in Wahrheit erst 780 Jahre alt ist?! ;-) Laut Wikipedia haben einige unbelehrbare Hobbyhistoriker den Bau der Dorfkirche um 20 Jahre vordatiert, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Dorfkirche_Marienfelde
    Wenn in Zukunft wieder solche interessanten Läufe anstehen, sag bitte Bescheid.

  2. Andreas sagt:

    Hallo Adrian, schön, dass du dabei warst! Das Baudatum der Dorfkirche ist zwar umstritten, aber das ist nicht der Grund für die klägliche Öffentlichkeitsarbeit. Der Bezirk ist, soweit ich weiß, ziemlich stolz auf das Jubiläum und auch die Paste-ups. Leider war man anscheinend so überzeugt von sich und der Aktion, dass man dachte, die Leute kämen von alleine… Wenn wieder ein Lauf dieser Art ansteht, sage ich dir Bescheid und würde mich freuen, wenn du dabei wärst!

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