Bei der Streckenplanung für den vergangenen Sonntag bin ich auf der Karte auf eingetragene Stolpersteine gestoßen und habe daraufhin kurz zu den Schicksalen recherchiert, die sich dahinter verbergen. Das war so interessant und bewegend, dass ich unbedingt zwei Stolperstein-Stopps in unsere Laufrunde einbauen musste. In Zeiten, in denen tatsächlich wieder von „Remigration“ fantasiert wird und von „wohltemperierten Grausamkeiten“ für die „geordnete Rückführung der hier nicht integrierbaren Migranten“, ist es wichtig, sich zu erinnern, dass wir genau solche Ideen in Deutschland schon mal hatten…
Durch Lankwitz zum Teltowkanal
Aufgrund diverser Verletzungen bestand unsere Gruppe dieses Mal aus vier Läufer:innen (Monika, Klaus, Bulut und ich) und zwei Radbegleitern (Andreas V. und Eyyüp). Über die Grüne-Flecken-Strecke – mit einem spontanen Erinnerungs-Abstecher zu einer früheren Wohnung von Andreas V. – kamen wir zur Dorfkirche Lankwitz. Von dort aus ging es über den Edenkobener Steg auf die andere Seite des Teltowkanals.
Kurz vorher hatte ich ein Dejá vu: Ein von hinten kommender Radfahrer klingelte und fuhr dann mit Schwung rechts an uns vorbei – wobei er die reflexhaft nach rechts ausweichende Monika fast umgefahren hätte. Genau so, wie es damals an nahezu der gleichen Stelle Klaus passiert war!
Nach einem Stück am Teltowkanal entlang, bogen wir nach links in die Birkbuschstraße und kamen über die Brücke wieder über das Wasser. Weiter ging es nach einem kleinen Schlenk dann in die Nicolaistraße. Hier sollten die ersten Stolpersteine sein, deren Geschichte ich gelesen hatte.
Familie Lichtenstein
Wir fanden sie im Fußweg-Pflaster vor einer prächtigen historischen Villa. In der hat vor 82 Jahren die jüdische Familie Lichtenstein gelebt. Zuerst wurde die Familie 1937 nach dem Tod des Vaters gezwungen, ihre Firma zu verkaufen. Der Sohn, ein erfolgreicher Flötist, emigrierte im Frühjahr 1939 mit seiner Familie nach Argentinien. Mutter, Schwester und Tante blieben in der Villa, in der sie aber nur noch zwei Zimmer bewohnen durften und Möbel verkaufen mussten, um leben zu können. Das große Grundstück musste im Sommer 1941 an das Deutsche Reich verkauft werden. Die Mutter Friederike Lichtenstein wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort kurz darauf ermordet. (Quelle: Stolpersteine in Berlin – Friederike Lichtenstein)
Alfred Lichtenstein
Interessant auch die Geschichte des Sohnes Alfred Lichtenstein, der als bekannter Flötist als „der Mann mit der goldenen Flöte“ bekannt war. König Konstantin von Griechenland hatte ihm das wertvolle Instrument 1921 für seinen Auftritt im Rahmen der Hochzeit von Kronprinz Georg II. geschenkt. Der erfolgreiche Musiker konnte seinen Beruf ab 1933 aufgrund der von den Nazis erlassenen Gesetze nur noch eingeschränkt ausüben: Es waren für Juden nur noch Aufführungen erlaubt, bei denen sowohl Aufführende als auch Publikum jüdisch waren. Selbst Kritiker solcher Aufführungen durften nur Juden sein, die wiederum nur in jüdischen Zeitungen veröffentlichen durften. Mit Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze im Jahr 1935 wurde dann jeglicher musikalischer Kontakt zu Nichtjuden verboten. Lichtenstein durfte also nur noch Juden Unterricht geben. 1939 floh er mit seiner Familie über England nach Argentinien, nachdem er die obligatorische Reichsfluchtsteuer gezahlt hatte. (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung – Die Flöte Alfred Lichtensteins)
Tja, und da steht man dann da im Jahr 2024 an einem sonnigen Sonntagmorgen vor einer beeindruckend großen, hübsch renovierten Villa, und nichts deutet auf solche Geschichten hin – außer die matten Stolpersteine vor dem Eingangstor. Gut, dass es sie gibt.
Ein wenig Angst hatte ich ja schon, meinen Mitläufer:innen ein wenig die Sonntagslauf-Laune getrübt zu haben. Aber es ging glücklicherweise mit angeregten Gesprächen weiter.
Ich bin ja nur ein „Auf-der-Karte-Strecken-Zusammenklicker“, aber Andreas V. kennt sich wirklich gut in der Stadt aus. Er ahnte nicht nur, wo unsere weitere Strecke bis nach Hause langführen würde, er wusste auch, dass es sich bei dem Gebäude mit den pompösen Säulen um das Beethoven-Gymnasium handelte.
Da wir gerade in der Gegend waren, wünschten sich Monika und Klaus noch einen kleinen Schlenk, um uns zu zeigen, wo Leo wohnt. Vorher waren wir noch an einer hohen Hausfassade mit Solarpaneelen vorbei gekommen. Im Idealfall zahlen die Mieter hier also weniger für ihren Strom.
Zufällig kamen wir aufgrund des kleinen Umwegs an drei weiteren Stolpersteinen vorbei. Schnell machte ich ein Foto, um später über die Geschichte der Familie Bock nachzulesen.
Andreas V. führte uns nun, da wir den geplanten Streckenverlauf verlassen hatten, mit seiner Ortskenntnis zielstrebig Richtung Zuhause.
Die Stimmung war trotz des kurzen Ausflugs in die dunkeldeutsche Geschichte gut…
… und wir freuten uns über die kleinen Wege und schattigen Seitenstraßen zwischen schönen Miethäusern in diesem recht grünen Bezirk.
Bald wären wir wieder am Ausgangspunkt, aber einen Stolperstein-Stopp hatte ich noch.
Familie Plattring
In der Marienfelder Kirchstraße erinnern zwei Stolpersteine an das jüdische Ehepaar Plattring. Naftalin Plattring wurde in einem Ort in der heutigen Ukraine geboren, der damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Gemeinsam mit seiner Frau Antonie wanderte er auf die Philippinen aus, um Perlenhändler zu werden. Sie kehrten aber nach einiger Zeit mit ihren inzwischen fünf Kindern zurück und ließen sich in Berlin-Marienfelde nieder. Gemeinsam mit einem Geschäftspartner gründete Naftalin Plattring eine Fabrik zur Herstellung von Flaschenverschlüssen, die er aber 1936 zwangsweise und unter Wert verkaufen musste.
Ähnlich wie bei Familie Lichtenstein gelang es auch hier den Kindern zwischen 1936 und 1939 rechtzeitig auszuwandern, während die Eltern blieben und weiter drangsaliert wurden. 1938 wurde das Ehepaar gezwungen, das Haus und ein weiteres Grundstück, das ihnen gehörte, zu verkaufen. Kurzzeitig wohnten sie in ihrem eigenen Haus zur Miete, mussten dann umziehen und wurden Anfang 1942 ins Ghetto Riga deportiert. Laut Vermögenserklärung, die die Nazis bürokratisch korrekt anlässlich der Deportation ausstellten, besaß der einstige Firmeninhaber zu diesem Zeitpunkt noch 1 Herrenhut, 1 Garnitur Unterwäsche, 3 Krawatten, 2 Kragen und 3 Paar Strümpfe. (Quelle: Stolpersteine in Berlin – Naftalin Plattring)
Nach etwa 12 Kilometern war unser Lauf dann beendet und alle waren sich einig, dass es (trotz der dunklen Geschichten) ein schöner und interessanter Sonntagslauf gewesen war!
Weitere Informationen
Stolpersteine – Der Künstler und Initiator Gunter Demnig