Am vergangenen Sonntag standen Hartmut und ich beim 22. Deich- und Salzwiesenlauf in Schönberg an der Ostsee am Start. Nach dem Scharmützelseelauf vom Wochenende davor erneut ein Wettkampf (Halbmarathon) in kleinem, sympathischen Rahmen. Wie immer waren wir vor dem Lauf beide ziemlich nervös…
Dazu passte das Shirt von zwei Damen, das ich beim Aufwärmprogramm für die Halbmarathon- und 10-km-Lauf-Läuferinnen und -Läufer entdeckte: „Was mach’ ich hier eigentlich…?“ Na, eigentlich wussten wir das ja schon, aber genau das machte uns ja so hippelig. Wir wollten beide Bestzeit laufen!
Bei Hartmut ist das ja nichts Ungewöhnliches, aber wenn ich mir vornehme, auf Bestzeit-Kurs zu gehen, dann muss schon einiges zusammen kommen. Allerdings waren die Voraussetzungen tatsächlich so gut wie nie zuvor: Ich hatte das gesamte Frühjahr sehr gut trainiert und bereits mehrere persönliche Bestzeiten auf anderen Distanzen unterboten. Und als es am frühen Morgen um 5:20 Uhr – als ich schlaftrunken über den Campingplatz zum WC-Haus wankte – leicht nieselte, da wusste ich, dass es ein guter Lauftag werden würde.
Nun standen wir also am Start, nervös wie immer, es war trocken, der Himmel bedeckt und um uns herum ein Feld von etwa 90 Halbmarathon- und 165 10-km-Läufern. Der Countdown wurde gemeinsam herunter gezählt und los ging es!
Mitläufer gesucht
Die ersten zwei Kilometer hatte ich noch das Gefühl in einem Läuferfeld zu laufen, aber dann trennten sich die Wege der beiden Wettbewerbe und es stellte sich heraus, dass um mich herum nur noch wenige Halbmarathon-Läufer übrig geblieben waren. Die ersten Blicke auf die Uhr zeigten, dass ich wie so oft zu schnell gestartet war: 4:30 min/km, zum Teil sogar darunter! Ich wusste, dass mir ein Tempo von 4:43 min/km zur Bestzeit reichen würde und versuchte, mich etwas zurück zu nehmen. Aber das war gar nicht so einfach…
Ich hielt mich inzwischen seit Kilometer 2 hinter einem jüngeren Läufer in blau-schwarz, der mir genau das richtige Tempo zu laufen schien. Beim ersten Getränkestand allerdings zog er davon, da er auf die angebotenen Wasserbecher verzichtete, während ich vorsorglich zulangte. Keine Ahnung, ob der kleine Flüssigkeitsschub mich so beflügelte, aber ich merkte bald, dass ich Meter für Meter wieder an ihn herankam.
Laufen bis zum Horizont – der Deich
Nach Kilometer 7 kamen wir an den Deich, liefen einen Anstieg zur Promenade hoch und ich zog plötzlich an meinem blau-schwarzen Mitläufer vorbei. Das war zwar im ersten Moment ein durchaus positives Gefühl, hatte aber zur Folge, dass meine Aussichten (im wahrsten Sinne) nun etwas betrüblich aussahen: der nächste Läufer bewegte sich als kleiner Punkt unerreichbar weit vor mir auf den Horizont zu! Ich war also völlig auf mich alleine gestellt, kein motivierender Mitläufer um mich herum, nur der Asphaltweg der spitz am Horizont verschwand.
Fotos in Brasilien – Was für ein Halbmarathon!
Ich kam an vereinzelten Spaziergängern und Radfahrern vorbei, die mich schwitzenden, arbeitenden Läufer teils anerkennend, teil verwundert zur Kenntnis nahmen. Witzig war ein Läufer-Pärchen, das mir entgegenkam. Plötzlich lief der Mann schräg auf mich zu, sah mir ins Gesicht und rief beschwörend: „Du schaffst es! Du kriegst sie alle!“ Angesichts der hunderte von Metern zum Vorläufer war ich mir da nicht so sicher, lief aber wieder etwas motivierter weiter.
Auf dem Streckenabschnitt an der Küste war ich nicht nur an Kalifornien vorbei gekommen, gleich müsste ich auch noch Brasilien (beides Ortsteile bzw. Strandbezeichnungen von Schönberg) passieren. Also schon mal im Lauf die Handy-Kamera herausgenestelt und bereits von Ferne auf das näherkommende Ortsschild gerichtet, vor dem sich gerade eine Touristin fotografieren ließ.
Ich laufe also mit etwa 4:37 min/km mit vorgestrecktem Handy auf dieses gelbe Schild zu, die Frau guckt schon merkwürdig, aber die Kamera will einfach nicht auslösen! Im Vorbeilaufen drehe ich mich mit der Kamera noch halb um, in der Hoffnung auf das erlösende „Klick“, und tatsächlich: Brasilien ist im Kasten. Das darf man wirklich keinem erzählen (bleibt also unter uns ;-), dass ich bei einem Lauf auf Bestzeit noch solche Foto-Kapriolen drehe…
Nächster Getränkestand: Seebrücke
Nächster Anlaufpunkt und Hoffnungsschimmer am Horizont ist die Seebrücke am Schönbergerstrand, zwischen Kilometer 11 und 12, mit einem Getränkestand. Die freiwilligen Helfer sind wieder sehr nett und schicken mich nach einem Becher Wasser mit aufmunternden Worten zurück auf die Strecke.
Obwohl das Laufen mittlerweile anstrengend geworden ist, sehe ich ständig auf die Uhr, ob mein Tempo noch stimmt. Hin und wieder kommt der Gedanke, es vielleicht doch lockerer angehen zu lassen („Bestzeit kannst du doch auch im Herbst noch laufen…“), aber der Blick nach vorn verrät mir, dass ich dem Läufer vor mir – einem Mann in Schwarz – erstaunlich nahe gerückt bin! Also dranbleiben.
Kurz hinter dem Getränkestand bin ich dann an ihm vorbei und stehe vor der gleichen Situation wie zuvor: die nächsten Läufer vor mir sind zu zweit als kleine Punkte weit vor mir unterwegs. Rechts ein blauer Punkt und links daneben ein hellerer Punkt. Aber auch an diese beiden rücke ich immer mehr heran, und als die Strecke vom Deich wieder auf einen Plattenweg ins Binnenland abbiegt, sind sie fast „greifbar“ nahe, laufen nur noch ein paar Dutzend Meter vor mir auf dem sich zwischen Büschen und Bäumen windenden Weg.
Anschluss suchen und halten
Weit vorne sehe ich nun einen Läufer, der erschöpft zu sein scheint, gerade ein paar Schritte geht, um dann wieder in einen langsamen Trab zu verfallen. Als ich auf gleicher Höhe mit ihm bin, denke ich, ich sehe nicht richtig: Wie kommt denn der alte Mann hierher? Später bei der Siegerehrung stellt sich heraus, dass der Läufer der Altersklasse M65 versehentlich zuvor auf der Strecke falsch abgebogen war und so einige Kilometer gespart hatte.
Es geht unter eine Unterführung durch und dann die Straße schräg rechts hoch nach Stakendorf hinein. Die beiden Läufer vor mir haben sich nun ihrerseits an einen Vorläufer mit gelbem „Kiel-Lauf“-Shirt herangearbeitet. Es dauert etwas, aber dann bin auch ich an ihm vorbei. Eigentlich habe ich das Gefühl, das ursprüngliche Tempo nicht mehr laufen zu können, kann aber trotz einiger leichter Steigungen auf dieser Straße den Anschluss an die beiden vor mir halten.
Wadenk(r)ämpfe und vergebliche Vorsätze
Wenig später, ich kämpfe seit einiger Zeit mit aufkommenden Wadenkrämpfen („Oh, nein, nicht jetzt… nur noch wenige Kilometer… jetzt bloß ganz kontrolliert und ruhig weiter laufen!“), sehe ich, dass der Läufer im hellen Shirt etwas zurückbleibt. Bald bin ich an ihm dran. Er hat mich kommen hören und will Platz machen, aber ich rufe, dass ich erst einmal hinter ihm bleiben würde. Dieser Vorsatz hält nur wenige Minuten, meine Uhr und mein Traumziel („Wenn du durchhältst, schaffst du die Bestzeit…!“) treiben mich voran und plötzlich ist nur noch „der Blaue“ vor mir.
Meine Kräfte schwinden, aber die Hoffnung steigt. Es sind noch weniger als zwei Kilometer bis zum Ziel, das muss und werde ich jetzt durchstehen. Der Mann in Blau läuft so konstant, dass ich ahne, dass ich an ihm nun nicht mehr vorbeikommen werde. Ich komme ihm noch etwas näher, beschließe aber, das Tempo nicht mehr zu erhöhen. Wir laufen nun die letzte kleine Steigung, sind auf der Straße, die geradewegs auf den Sportplatz zuführt. Als ich die Einfahrt mit dem Schild „Albert-Koch-Platz“ sehe, werfe ich einen letzten Blick auf die Uhr und weiß, dass mir die Bestzeit nicht mehr zu nehmen ist.
Auf der Laufbahn zur neuen Bestzeit
Aber sicher ist sicher und als wir auf die Laufbahn einbiegen (das Foto entstand nach dem Lauf, zu so etwas war ich in dem Moment nicht mehr fähig), um die letzte halbe Runde Richtung Ziel zu laufen, drehe ich noch einmal auf. Ein tolles Gefühl, nach all den Plattenwegen und Straßen auf solch einer schönen Bahn zu laufen, mit der Gewissheit, so schnell wie nie zuvor einen Halbmarathon gelaufen zu sein! Nur eine Sekunde nach „dem Blauen“ bin ich mit neuer persönlicher Bestzeit von 1:37:48 h im Ziel!
Hartmut, der bereits mit 1:28:49 h lange vor mir angekommen war, freut sich riesig für mich („Unter 1:38! Und du hast beim Zieleinlauf noch richtig gut ausgesehen!“). Gemeinsam genießen wir noch ein wenig die Atmosphäre im Ziel und plaudern mit den anderen Läufern. Das ist das wirklich Schöne an solch kleinen Wettkämpfen, dass man sich sofort von der Strecke wiedererkennt und dann im Zielbereich gegenseitig gratuliert und Erfahrungen und Geschichten von den eigenen Läufen austauscht.
Wir verbrachten noch einige Zeit auf dem Sportplatz, ließen es uns bei Mettwurst-Brötchen und Erdinger alkoholfrei gut gehen und warteten auf die Siegerehrungen.
Hartmut war nämlich Altersklassenerster geworden und musste noch auf das Treppchen! Und wenn ich nur ein Jährchen jünger wäre, wäre ich in der Altersklasse M40 tatsächlich ebenfalls Erster geworden; so hat es „nur“ zu einem 9. Platz bei den starken M45ern gereicht (Gesamtplatz 17, Hartmut 7).
Auf der rubiTrack-Auswertungskarte kann man noch einmal meine Zwischenzeiten sehen (rote Abschnitte stehen für ein Tempo unter 4:30 min/km). Der letzte Kilometer mit dem Zielsprint war allerdings deutlich schneller als hier angegeben, denn ich hatte mal wieder vergessen, die Uhr gleich im Ziel zu stoppen…
… spannend erzählt! Gratuliere zu deiner Superzeit!
Toller Lauf, guter Bericht.
Es gehört schon einiges dazu, bei dem kleinen Startfeld seine PB zu unterbieten. -Gut gemacht und Glückwunsch-
Grüße -timekiller-
Ich hab vom Lesen schon einen Puls von über 150 ;-)
Bei deinen Laufberichten ist man irgendwie immer wie mittendrin.
Super gelaufen, neue PB bei äußerlich fast idealen Bedingungen und dabei noch fotografiert, ein Zeichen dafür, dass sicherlich noch mehr drin ist, nicht heute, nicht morgen, aber vielleicht übermorgen !
Glückwunsch !
Danke an euch für die Glückwünsche, habe beim Schreiben tatsächlich auch noch einmal alles durchlebt ;-) Jetzt gibt es bis zum Herbst keine Wettkämpfe mehr und der Puls kann wieder auf Normalniveau sinken…
moin andreas,
hat mir riesigen spaß gebracht den lauf aus deiner perspektive nochmal erleben zu können und schön, dass ich auch darin vorkomme. nochmals herzlichen glückwunsch zur persönlichen bestzeit, zu der ich vielleicht auch ein kleines bißchen beitragen konnte. aber ich bin mir sicher du kannst dich noch steigern!
alles gute für die nächsten heldentaten…
der blaue
Hallo Ingo,
noch einmal Danke für das „Ziehen“, und ich hoffe, wir sehen uns mal bei einem Lauf wieder!