Nach der Marathon-Etappe vom Vortag war ich froh, dass es an diesem Tag nur eine „leichte“ Etappe werden würde. Ich schreibe das in Anführungszeichen, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon 114 Kilometer in drei Tagen hinter mir hatte – ein Umfang, den ich noch nie zuvor absolviert hatte. Aber das geriet im Laufe des Tages völlig in den Hintergrund, denn es gab eine böse Überraschung, die fast das Ende unserer Aktion bedeutet hätte…
Wir starteten um 10 Uhr bei angenehmen 17 Grad gemeinsam spazierend. Den Weg durch die Innenstadt wollten wir für ein bisschen Sightseeing nutzen, da konnte man nicht überall Fahrrad fahren – und alle paar Meter beim Laufen stehen zu bleiben, machte auch keinen Sinn.
Erstes Fotomotiv war die Stadtkirche Lutherstadt Wittenberg. Hier hat damals Luther gepredigt…
… dessen Denkmal seit 1821 auf dem Marktplatz steht. Es war damals das erste Mal, dass ein Nichtadliger derart öffentlich geehrt wurde.
An einem kleinen Wasserkanal hingen bunt bemalte Kinder-Gummistiefel.
Am Markt liegt auch die Apotheke, die einst Lucas Cranach geführt hat. Er war nicht nur ein berühmter Maler, sondern gleichzeitig auch Apothekenbesitzer, Buchdrucker und langjähriger Bürgermeister der Stadt Wittenberg.
In einem Schaufenster im Haus der Geschichte waren Sandmännchen und Pittiplatsch zu sehen, neben Büchern und Mosaik-Comics.
Auf dem Weg zur Schlosskirche kam kurzzeitig sommerliches Urlaubs-Feeling auf.
Eine nette Idee, die bunten Tassen in der Ziegelmauer.
Wir erreichten die Schlosskirche Wittenberg…
… an der man die berühmte Thesentür bewundern kann. Natürlich nicht mehr das Original, sondern eine Nachbildung, die die Thesen als Relief enthält.
Gleich daneben der Eingang zum Turm. Den hatte uns der Pensionswirt in Treuenbrietzen wegen des Ausblicks wärmstens empfohlen. Aber nach 42 Lauf-Kilometern hatte ich den Tag zuvor keine Lust mehr, weit über 100 Treppenstufen zu steigen.
Einmal um die Schlosskirche herum und wir waren im Luthergarten. 500 Bäume, gepflanzt anlässlich des 500. Jahrestages der Reformation, und in der Mitte ein Kreuz, das ich erst so richtig auf Wikipedia erkannt habe.
Man könnte natürlich auch Hinweistafeln lesen… Wieder ein Fun Fact am Rande: Hier standen jetzt zwei Andreasse an der Andreasbreite.
Was uns auffiel: Nachdem auf der bisherigen Strecke hauptsächlich Hertha-Fans ihre Liebe zum gerade abgestiegenen Hauptstadtverein mit Graffiti und Aufklebern bekannt hatten, kamen wir jetzt so langsam in das Gebiet der Fans des 1. FC Union (ebenfalls Hauptstadtverein, nur aktuell mit Champions-League-Teilnahme etwas erfolgreicher).
Natürlich hatte ich schwere Beine vom Vortag, aber da diese Etappe nur kurz sein würde, ignorierte ich das einfach.
Ich lief auf die Elbe-Brücke…
… und Andreas V. fuhr auf dem Rad immer voraus.
Die Zeit für Fotos war auf jeden Fall drin an diesem „Regenerations-Tag“.
Am anderen Elbufer erwartete uns ein Schildermeer: Gleich mehrere Rad-Routen verliefen hier, und der Jakobsweg war nun auch gleichzeitig ein Lutherweg.
Kurz darauf ein Findling, der an das Jahrhunderthochwasser 2002 erinnern sollte. Damals brach an dieser Stelle der Schutzdeich und der Ortsteil Pratau, an dem wir vorbeiliefen, stand 1,70 m unter Wasser.
An dieser Stelle sah ich den Hinweis auf den Jakobsweg vor lauter Schildern nicht – es ist der kleine vergilbte Aufkleber unter den zahlreichen anderen Symbolen.
Dieser Abschnitt war für Andreas V. auf dem Rad gut zu fahren, handelte es sich doch um den Europaradweg R1, aber auch die D-Netz-Route D3, den Radweg Berlin-Leipzig und den Elberadweg.
Die Stadt lag nun hinter uns – und vor uns weite Felder.
An einem Rastplatz mit Vase und frischen Blumen kann man einfach nicht vorbei laufen…
… und Andreas V. öffnete für mich das reich bestückte „Bord-Bistro“.
Erfrischt ging es weiter, und ich lief zufrieden vor mich hin.
Rad-Begleiter Andreas V. konnte sich nach den strapaziösen Sandwegen der letzten Tage nun auf wunderbar asphaltierten Radwegen erholen.
Eine einsame Landstraße führte uns nun…
… nach Klitzschena. Das gehörte immerhin schon zur Stadt Kemberg, unserem Zielort für diesen Tag.
Vorbei an der Kirche…
… und wieder raus aus dem Dorf. Das Laufen auf den schmalen Landstraßen war nicht angenehm, denn die Autos reduzierten nur selten ihr Tempo.
Ich gewöhnte mir an, jedes Mal stehen zu bleiben und einen Schritt nach links ins Feld zu gehen, um mehr Sicherheitsabstand zu den heranbrausenden Rüpeln und Rüpelinnen zu haben. Der Anblick der schönen Felder versöhnte dann aber gleich wieder mit der Welt.
Allzu sehr durfte man beim Laufen aber nicht träumen, denn es ging immer an der „Abbruchkante“ entlang.
Wir kamen nach Bergwitz hinein.
Der wolkige Himmel war ganz angenehm, aber es war trotzdem warm genug (um diese Zeit vielleicht etwas über 20 Grad).
Beim Bahnhof unterquerten wir die Bahnstrecke…
… durch einen Graffiti-beschmierten Tunnel…
… und warteten auf der anderen Seite auf die per Durchsage angesagte Zugdurchfahrt. Mal etwas Abwechslung, einen durchrauschenden Zug sehen… Es kam dann aber nur eine einzelne Lok.
Das Schild für die Grundschule war anscheinend (typografisch) schon etwas älter…
… ebenso wie (bautechnisch) das Wartehäuschen an der Busschleife.
Zu den vielen Radstrecken kam nun auch noch der „Erlebnis-Rad- & Wanderweg Kohle | Feuer | Seen“ hinzu. Der Bergwitzsee ist nämlich aus dem Tagebau entstanden, der in Bergwitz mal eine große Rolle gespielt hat – 1916 kam hier sogar der erste Schaufelradbagger Deutschlands zum Einsatz.
Wieder ein Suchspiel im Schilderwald: Wo ist die Jakobsweg-Muschel versteckt?
Vor uns lag jetzt der Bergwitzsee. Andreas V. wäre so gerne geschwommen, aber es reichte nur für einen Blick über das Wasser und ein paar Fotos für die Threema-Gruppe.
Wir liefen am See entlang und hatten ihn dann bald nach dem Angelverein hinter uns gelassen.
Kurz nachdem ich das Feld mit den Massen von blauen Kornblumen bewundert hatte, passierte es: Ich lief auf einem breiten Schotterweg vor mich hin und bemerkte auf einmal, dass Andreas V. stehen geblieben war und sein Rad betrachtete. „Was ist los?“ „Das Tretlager blockiert!“ „Vielleicht Steinchen im Kettenschutz-Kasten?“ „Vielleicht, es lässt sich auf jeden Fall nicht drehen.“
Aber unsere gemeinsame Ursachenforschung brachte nichts, so dass nichts anderes übrig blieb, als das Rad zu schieben. Es waren nur noch 2 km bis zum Ziel der heutigen Etappe, so dass wir nun gemeinsam spazierten.
Am Ende zog es sich doch noch sehr lang sich hin. Andreas V. rollte manchmal im Tretroller-Stil, wenn es leicht bergab ging. Spaß machte das nicht.
Ich fotografierte nebenbei im Gehen, um mich abzulenken…
… aber der Gnom auf der Gartenmauer spiegelte unsere Stimmung schon sehr gut wider.
Um 13:40 Uhr hatten wir die Etappe geschafft und kamen am Schützenhaus Kemberg an.
Die darauffolgenden Reparaturversuche im Hof brachten nichts, und die Stimmung ging immer weiter in den Keller. Da fiel uns ein, dass auf der Jakobsweg-Rad-und-Wanderkarte auch Fahrradläden eingetragen waren. War zufällig einer in der Nähe? Tatsächlich! Wir konnten es kaum glauben, aber nur ein paar hundert Meter von uns sollte laut Karte einer sein! Kurz im Web gegengecheckt: Ja, den schien es noch zu geben, aber gerade war Mittagspause.
Nachdem wir die Mittagspause abgewartet hatten, machten wir uns auf den Weg. Der freundliche Herr Mattheß wusste sofort, woran es lag: Das Tretlager war auf der linken Seite herausgekommen! Das sei kein Problem, die Reparatur sei am späten Nachmittag fertig.
Was für ein Glück! Für eine Zeit lang hatte ich befürchtet, dass unsere Leipzig-Tour vorzeitig in Kemberg enden würde. Jetzt machte sich große Erleichterung breit. Fast wie auf Wolken gingen wir nun auf Sightseeing-Tour durch das Städtchen. Von der Postmeilensäule hatte ich vorher gelesen…
… aber auch das Rathaus und die St.-Marien-Kirche waren sehr interessant und lagen idyllisch im Ortskern. Auch in dieser Kirche hatte Luther übrigens früher manchmal gepredigt.
Jetzt hatten wir uns auf den Schreck wirklich ein Eis verdient!
Auf dem Rückweg zur Unterkunft sahen wir ein Feuerwehr-Feuer-Gemälde…
… einen Trabi…
… und ein altes Eckgebäude mit historischer Beschriftung.
„Unser“ Schützenhaus Kemberg war auch historisch, aber – Achtung, Wortwitz – etwas besser in Schuss.
Bei einer kalter Apfelsaftschorle im Hof warteten wir auf den erlösenden Anruf, der dann auch bald kam: Das Rad war repariert und abholbereit!
Andreas V. holte sein Fahrrad ab, alles war bestens, es konnte morgen weiter gehen. Puh! Danke noch einmal an dieser Stelle, Herr Mattheß, Sie haben unsere Tour gerettet!
Nach einem sehr entspannten Abendessen im örtlichen Asia-Imbiss erholte ich mich später im Zimmer und sah noch das Fußball-Relegationsspiel Arminia Bielefeld : SV Wehen Wiesbaden. Aber dann war auch Feierabend, Licht aus – am nächsten Tag würde es weiter gehen… zum Glück!
Danke auch von meiner Seite an Herr Mattheß, weil es so mit den tollen Tagesberichten weitergeht :-)
Andreas IV
Der nette und kompetente Herr Mattheß war in jeder Hinsicht ein absoluter Glücksfall. Aber wir wollen auch nicht seine ebenso nette und kompetente Frau vergessen, die rat- und tatkräftig zur Reparatur beigetragen hat!